Der Malecon, die vielgerühmte Uferstraße Havannas zieht sich zwischen Meer und Stadt entlang. Die Straße führt zum Ende der Landzunge, an der Küste auf der anderen Seite des Meeres liegt die Festung El Morro. Auf der Kaimauer sitzen Paare, Familien, zwei Männer entlocken einer Trompete sehnsuchtsvolle Töne, aus dem Meer riecht es nach Fisch und Algen.
Ich schlendere über den Gehweg und sehe mich um. Auf der Straße ist kaum Verkehr, der Himmel ist tropisch bewölkt und die Häuser am Straßenrand sind größtenteils in sehr schlechtem Zustand. Alles wirkt unbelebt und bedrückend. An einem besonders baufälligen Haus hängt ein Schild: Verkaufe guten Tisch gegen Fernseher. Auf der Veranda davor steht eine alte Frau und betrachtet müde den Verkehr auf der Straße. Im Parterre eines blau angestrichenen Hotels gibt es eine Bar. Touristen sitzen dort und trinken Bier und Cocktails, gucken vorsichtig durch die Fenster nach draußen. Es wirkt, als seien sie auf der einzigen Insel in einem endlos weiten Meer gelandet, so als wollten sie den Ort nie wieder verlassen.
„Hola!“
Ein Mann in Sportkleidung und mit Boxhandschuhen am Rucksack ruft es mir zu, während er an mir vorbeieilt. Er lächelt charmant, unvorsichtigerweise grüße ich zurück. Schon bremst er seinen Schritt ab und verwickelt mich in ein Gespräch. Macht nichts, denke ich mir, der hat es eilig und rennt gleich weiter. Von wegen.
„Woher kommst du?“, fragt er.
Ich mustere ihn, er ist ein gut aussehender Mann mit einem durchtrainierten Körper und er hat eine sympathische Ausstrahlung.
„Aus Deutschland.“
Er strahlt.
„Toll! Deutschland ist ein freies Land! Ganz anders als hier. Hier ist niemand frei.“
Ich staune, dass er so mit der Tür ins Haus fällt, warnt doch der Reiseführer davor, bei Gesprächen mit Einheimischen nach der politischen Lage zu fragen.
„Stimmt, wir haben es wirklich gut in Deutschland.“
„Wie lange bist du schon in Kuba?“
„Gerade angekommen.“
„Was, da muss ich dich gleich auf ein Willkommensbier einladen!“
Mit einem strahlenden Lächeln akzeptiert er die Ablehnung.
Dann erzählt er aus seinem Leben.
. Raoul ist Boxchampion, seine Figur hat eine überzeugende Form, die Nase auch, und Bodyguard. Stolz zeigt er ein Foto vom Papstbesuch. Raoul steht schräg hinter dem Papst, es sieht so aus, als stünde er eher zufällig dort. Aber Raoul hat den Papst auf seiner Reise durch Kuba beschützt. Ich hatte ja immer geglaubt, Bodyguards tragen schwarze Anzüge und Knöpfe im Ohr. Aber auf Kuba sind Bermudas und T-Shirts dem Klima natürlich besser angepasst, und dem Papst sind innere Werte sicher auch wichtiger.
Raoul schimpft weiter über Kuba. In der Regierung sitzen nur Lügner, das ganze System sei kaputt, es gebe keinerlei Hoffnung. Deshalb reichen auch zwei Jobs nicht aus, um in Kuba zu überleben. Raoul ist auch Masseur und ich überlege, was neben Rückenmassagen wohl noch in seinem Angebot ist. Stolz zieht er seinen Geldbeutel aus der Tasche und zeigt mir, wie erfolgreich er ist: es sind etliche Scheine darin.
Raoul ist nach wie vor im Laufschritt unterwegs, ich kann kaum mithalten und hoffe eigentlich auch, dass er sich demnächst wieder verabschiedet, denn mein Magen knurrt und ich möchte etwas essen.
Aber er ist voller Energie, zückt sein Handy und zeigt mir Fotos von sich. Raoul als Boxlehrer, Raoul beim Karate, Raoul mit nacktem Oberkörper. Als Model arbeitet er nämlich auch, nur mit der Bezahlung war er nicht zufrieden. Manche der Fotos sind in sepia, wirken wie Aufnahmen aus den 50er Jahren und der Boxer darauf sieht auch recht schlank aus. Andererseits kann es mir egal sein, wer wirklich auf den Fotos zu sehen ist.
„Komm, wir setzten uns da drüben auf die Kaimauer.“
Mein Magen knurrt weiter, aber ich bringe es nicht über mich, mich zu verabschieden. Raoul hat die Führung übernommen, mit Charme und Nachdruck. Er leitet mich über die vierspurige Straße. Zwei Spuren in jede Richtung, gelbe kugelige Taxis und Karossen aus den 50er Jahren in allen möglichen Farben wechseln sich ab. Der Verkehr ist überschaubar, aber manche Fahrzeuge sind mit erstaunlicher Geschwindigkeit unterwegs. Raoul stellt sich schützend vor mich und regelt die Sache.
„Du musst auf der Straße vorsichtig sein! Wenn nicht: bumm, oder wir beide: bumm, bumm!“
Ist bestimmt kein Spaß hier im Krankenhaus zu liegen und eigentlich auch ganz schön, wenn einer auf mich aufpasst. Auf der anderen Straßenseite setzen wir uns auf die Kaimauer. Raoul in einem Abstand, der gerade noch akzeptabel ist.
Dann legt er sich weiter ins Zeug. Die guten Männer in Kuba sind die, die gläubig sind. Als Beweis dafür, dass er einer von ihnen ist, zeigt er mir mehrere Bilder von sich mit Kirchenleuten, Raoul immer im weißen Hemd und mit strahlendem Gesicht.
Nebenbei blättert er zu einer Serie von Bildern, die ihn mit seiner Freundin zeigen: eine hübsche Frau aus Puerto Rico, die er auf einem der Fotos küsst.
„Hast du Kinder?“
„Nein. Nicht in Kuba. Hier würde ich niemals Kinder in die Welt setzten. Woanders ja, aber hier nicht. In Deutschland vielleicht, oder in den USA. Aber nicht in Kuba!“
Ich mustere ihn von der Seite, überlege, wie lange es dauern wird, ehe er mich anbaggert. Aber so durchschaubar ist seine Strategie eben doch nicht.
Schon schimpft er wieder über Kubas Regierung, erzählt dann, dass sein Vater und seine Geschwister in den USA beziehungsweise Frankreich leben. Sein Vater arbeite als Jockey. Ich versuche mir vorzustellen, dass Raouls Vater ein kleiner zierlicher Mann ist, was mir nicht ohne weiteres gelingt. Stattdessen frage ich ihn, warum sich denn niemand in Kuba gegen die Regierung wehrt, wenn alle so unzufrieden sind.
„Weil ihnen das fehlt.“
Raoul greift sich in den Schritt. Danke, verstanden.
Aber er habe keine Angst, weder vor der Polizei noch vor anderen! Der Geheimdienst laufe hier überall herum. Wie abgesprochen geht ein Mann breitbeinig und viel zu nah an uns vorbei, fast streift er unsere Knie.
„Siehst du, das ist so einer: sie sind alle dunkelhäutig und laufen extra breitbeinig!“
Ich nicke zweifelnd. Zum Beweis springt Raoul auf und zeigt mir, wie man normalerweise über den Gehsteig geht, nämlich in der Mitte. Na ja, kann schon sein, dass er Recht hat.
„Der will wissen, was wir hier reden. Siehst du, nirgends sind ein Kubaner und eine europäische Frau hier zu sehen.“
Zugegeben, die Leute um uns herum, scheinen alle Kubaner zu sein.
„Wenn dann so einer kommt und nach den Papieren fragt, sagt man schnell: sie ist meine Freundin.“
Ich denke an den Abschnitt aus dem Reiseführer, der von Prostitution und Heiratswünschen der Kubaner und Kubanerinnen mit Ausländern handelt. Ob ein Heiratsantrag folgen wird?
So als Boxer könne er sich aber leicht Respekt verschaffen, er brauche sich vor nichts und niemanden zu fürchten. Das Protzen geht mir ein bisschen auf die Nerven. Ob denn das die ideale Form der Konfliktlösung sei, wende ich ein.
Raoul wird ernst.
Natürlich spräche er erst mit den Leuten, wenn sie ihm dumm kommen. Aber wenn das nicht helfe, schlage er zu. Sonst, stellt er klar, mache er sich zum Gespött. Kommt natürlich nicht in Frage.
Dann strahlt er mich wieder an.
„Wie alt bist du?“
Neben dem strahlenden Lächeln, gehört auch der eine oder andere vorsichtige Körperkontakt zum Gespräch, mal hier an die Schulter getippt, mal da auf die Hand. Ich bin wachsam, rücke ein kleines Stück ab. Was ihn nicht weiter betrübt.
„Was, schon siebenundvierzig?“ Irgendwie hatte ich gehofft, dass ihn das entmutigt. Aber nein, er findet gar nicht, dass ich so alt aussehe. Und ich sei auch eine ganz Hübsche, auch meine Figur, ganz klasse. Typisch kubanisch, nicht so dünn wie die meisten deutschen Frauen. Sehr gut. Er sieht zufrieden aus und ich sonne mich in dem Kompliment.
„Ich sehe auch nicht so alt aus, wie ich bin. Ich bin einundvierzig.“
Ich schmunzele. Dass er älter ist, als er zunächst wirkt, habe ich tatsächlich erst gemerkt, als mir die weißen Haare in seinem Bart aufgefallen sind.
Für sein Leben hat er noch große Pläne. Als Boxchampion sieht er seine Zukunft in den USA oder in Deutschland. Da könne er locker schnell Geld verdienen.
„Vielleicht in den USA, in Deutschland braucht man für alles ein Zeugnis, sonst läuft nichts.“
Habe er ja, all die Fotos von sich.
„Man braucht auch Zeugnisse. Auf Papier.“
Hat er auch, und eben all die Fotos. Langsam bekomme ich eine Vorstellung davon, warum Flüchtlinge sich einen Neuanfang in Deutschland so einfach vorstellen.
„Warum gehst du nicht in die USA zu deinem Vater?“
Ach, der habe die Familie schon vor langer Zeit verlassen. Überhaupt sei er auf der Suche nach einer Frau zum Heiraten.
Er könne doch seine Freundin heiraten. Aber nein, winkt er ab, mit der sei er schon lange nicht mehr zusammen.
„Wie schade!“
Er reibt sich die Augen.
„Oh ja, ich habe viele Tränen geweint.“
Entzückend, diese Show.
Ich ziehe ein Foto von meinem Freund aus der Tasche: als potentielle Ehefrau komme ich nicht in Frage. Er schaut sich das Bild aufmerksam an, dann strahlt er mich wieder an, macht Komplimente und zeigt mir weitere Fotos von sich, bis mir langweilig wird. Mein Magen hängt in den Kniekehlen.
„Es war nett, sich mit dir zu unterhalten, aber jetzt muss ich gehen.“
Großes Verständnis in seinen braunen Augen.
„Ich gehe in diese Richtung und du in diese, oder?“
Er zeigt in zwei verschiedene Richtungen. Genau.
„Weil du einen Freund hast.“
Genau. Außerdem bin ich hungrig.
Aber so leicht gibt er dann doch nicht auf.
„Angela, in Kuba braucht man immer einen guten Freund. Einen, der einem die Stadt zeigt, einen, der einem beim Mieten eines Autos hilft.“
Aha, eine weitere Berufung scheint Reiseführer zu sein.
„Danke, aber trotzdem: nein!“
Ein Küsschen auf die Wange zum Abschied, ein strahlendes Lächeln, und das, obwohl er lange gekämpft und doch verloren hat. Respekt.
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