Bücher statt Menschen
Der Wind fegte über die Pfützen am Straßenrand, vereinzelt
hob er Blätter vom Gehsteig und trug sie ein paar Zentimeter weiter, ehe sie
sich müde zurück auf das nasse Pflaster fallen ließen.
Grit zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis zum
Hals zu und streckte die Hand nach den Regentropfen aus. Feiner Nieselregen,
ein angenehmes Streicheln auf ihrer Haut. Sie sah in den grauen Himmel hoch,
spürte, wie ihr Gesicht nass wurde, und lächelte.
Sie überholte zwei Spaziergänger - auf der anderen
Straßenseite trotteten ein Mann und ein Hund durch den Regen - und stellte sich
in das Wartehäuschen der Bushaltestelle. Zehn Minuten, bis der Bus kam, Grit
setzte sich auf das kalte Gitter und lehnte sich an die Scheibe.
"Jetzt triff dich doch mit dem. Klingt doch
gar nicht schlecht."
Susanne, immer ungeduldig. Susanne, blond und
rund.
"Ihr seht gar nicht aus wie
Geschwister."
Susanne, der es nie schnell genug gehen konnte.
Selbst die eigene Scheidung nicht.
"Dann passiert endlich wieder was in meinem
Leben!"
Genau genommen passierte nichts, nachdem sie geschieden
war. Außer, dass Roman ein halbes Jahr später eine andere Frau geheiratet
hatte. Nur Susannes Ungeduld war immer größer geworden.
"Gib doch mal eine Anzeige auf. Du bist doch
schon sechs Jahre von Stefan getrennt."
Sechs Jahre. Bücherjahre.
Ihr Lesen hatte Stefan immer gestört. Es hielte
sie davon ab, sich mit ihm zu beschäftigen. Er glaubte, dass die Helden in
ihren Büchern attraktiver als er selbst waren.
Grit las Romane, in denen die Natur den größten
Raum einnahm, Liebesszenen und alles,
was damit verbunden war, überblätterte sie. Es langweilte sie. Am Ende gab es
ein Happy End oder eben keins.
"Sag ihm das bloß nicht!", hatte Susanne
gesagt, "sonst bemüht er sich nicht mehr um dich."
Hatte Stefan sich um sie bemüht? Grit sah einen
Mann im Nebel ihrer Vergangenheit, der keinerlei Konturen mehr hatte. Sechs
Jahre waren eine lange Zeit.
Mit einem leisen Schmatzen öffnete sich die Tür
des Busses. Grit setzte sich auf einen freien Platz am Fenster.
Roland. Nibelungen. Der Name war in Ordnung, wenn
auch der Name eines sturen Verlierers.
"Den Namen hat er sich ja nicht selbst
ausgesucht."
Susanne hatte entschieden. Der Typ war gut. Gut
genug, um Grit wieder ins Leben zu schicken. Das ging doch nicht, dass die
immer mit ihren Büchern auf dem Sofa saß.
"Genau", hatte er geschrieben, "lieber
Bücher statt Menschen, lieber Bibliotheken statt Kneipen, lieber Nebengasse
statt Mainstream."
Er hatte eine große Nase und sein Lächeln war ein
wenig schief. Aber nicht unsympathisch.
"Er hat eine gute Figur."
Susanne wieder.
Grit überlegte, ob sie von diesem schiefen Lächeln
geküsst werden wollte, aber die Überlegung verlor sich, ehe sie zu einem
Ergebnis gelangt war.
"Triff dich Sonntag mit ihm."
Susanne war unternehmungslustig.
"Geh du doch selbst hin!"
Grit schob das Foto mit dem Zeigefinger in die
Mitte des Tisches.
Andererseits.
"Ich schreib' ihm jetzt, ok?!" Susannes
Hände hingen erwartungsvoll über der Tastatur. "Wo?"
Grit lächelte, zuckte mit den Achseln.
Susannes Finger klapperten die Buchstaben ins
Netz. Enter. Fertig.
"Sonntag hast du einen Termin. Vergiss ihn
nicht!"
Es regnete immer noch, als Grit den Bus verließ
und in Richtung des Cafés schlenderte, das Susanne für sie ausgesucht hatte.
Das Café war beinahe leer, nur wenige Tische waren
besetzt. An einem Tisch saß ein Studentenpärchen, sie in rotem Mantel und
Gummistiefeln, die Finger fest verknotet mit ihrem Gegenüber. Ein weiterer
Tisch war von zwei Männern in Anzug und Krawatte belegt, die sich angeregt
miteinander unterhielten.
"Lass ihn warten", hatte Susanne gesagt.
"Dämliches Spiel", hatte Grit gedacht
und sich rechtzeitig auf den Weg gemacht.
Grit hängte ihre Jacke über die Stuhllehne,
schüttelte die Regentropfen aus ihrem Haar und bestellte schwarzen Tee. Verrührte
drei Stücke Zucker darin, zählte die Tische im Raum, sah zu, wie die
Anzugträger bezahlten und das Lokal verließen. Beobachtete, wie die
Regentropfen Bahnen über das nasse Fenster zogen.
"Trink erst mal was, entspann dich."
Es gab nichts, wozu Susanne nichts zu sagen wusste.
Entschlossen setzte Grit das Teeglas auf dem Tisch
ab und holte ein blaues Taschenbuch heraus, auf dem große gelbe Schmetterlinge
leuchteten.
Das Studentenpärchen verließ das Café. Stattdessen
setzte sich ein junger Mann an den Tisch, entfaltete unverzüglich eine Zeitung und
begann, darin zu lesen. Hin und wieder nippte er an dem Espresso, den ihm die
Kellnerin ungefragt an den Tisch gebracht hatte.
"Du darfst auf keinen Fall länger als
fünfzehn Minuten warten."
Susanne hatte ihre Arme in die Hüften gestützt.
"Klar!?"
Grit sah auf ihre Uhr, bestellte noch ein Glas Tee
und öffnete das Buch. Saugte den Geruch von nasser Erde aus den Zeilen, spürte
die Kälte feuchter Luft ihre Beine hoch kriechen. Schlich gemeinsam mit dem
Protagonisten durch die Abenddämmerung im Wald, hörte Äste unter ihren Füßen
knacken, in der Ferne schrie ein Kauz. Hielt ihm das Gewehr, sah den Bären durchs
Zielrohr und drückte auf den Abzug.
Peng!
Grit schrak auf. Vor ihr stand ein Mann von mittlerer
Größe, der bestürzt das zersplitterte Teeglas zu seinen Füßen musterte. Er war
viel schmaler als auf dem Foto.
"Entschuldigung", sagte er, faltete
seinen Regenschirm zusammen und setzte sich ihr gegenüber hin.
Eine Weile starrte er sie an, dann streckte er
seine rechte Hand aus.
"Roland."
Grit nickte und ergriff die Hand. Seine Stimme war
angenehm tief.
"Tut mir leid, ich habe die Bahn
verpasst."
Grit nickte, machte ein unbestimmtes Geräusch.
"Lass ihn reden. Lass ihn das Thema bestimmen."
Susannes Vorrat an Ratschlägen war unerschöpflich.
"Ich komme eigentlich nie zu spät",
setzte er hinzu, "aber...vergiss es."
Grit dachte an die knackenden Äste im Buch und sah
die Wassertropfen am Fenster des Cafés entlang rinnen. Hätte er ihr Teeglas
nicht vom Tisch geworfen, sie hätte nicht bemerkt, wie viel Zeit vergangen war.
"Darf ich dir noch einen Tee bestellen?"
Da, das schiefe Lächeln vom Foto.
Grit atmete innerlich tief aus, aber ihr Blick
wurde unwiderstehlich von den Regentropfen am Fenster angezogen. Draußen war es
immer noch grau, das Wasser feierte eine ausgelassene Party auf der Straße. Nur
sie war nicht dabei.
"Möchtest du lieber im Regen spazieren
gehen?"
Ihr Blick zuckte zurück zu ihrem Gegenüber,
musterte seine grauen Augen, fuhr über seine von der Feuchtigkeit gekräuselten
Haare.
"Sag' bloß nicht, was du denkst."
Susanne. Klar.
Grit zuckte mit den Schultern, nickte kaum
merklich.
"Also", sagte er, "dann raus ins
nasse Vergnügen!"
Der feine Nieselregen hatte sich in laut
plätschernde Tropfen verwandelt, die Grit auf Haar und Gesicht fielen. Ruck
zuck klebten ihre Haare in breiten Strähnen auf ihrem Kopf.
Grit sah sich um und lächelte. Der Gehsteig war
leer, weit und breit war niemand außer ihnen unterwegs.
"Man hat die Straße für sich, wenn es regnet",
sagte Roland, den Regenschirm zusammengefaltet in der linken Hand. Hin und
wieder streifte sein nasser Handrücken den ihren. Die Gassen der Altstadt waren
schmal.
"Lass uns zum Fluss hinab gehen, der Weg ist
sehr schön."
Hinter einem Torbogen eröffnete sich der Blick auf
den breiten, schlammfarbenen Fluss, an einige Stellen hingen Weidenzweige ins
Wasser.
"Siehst du dort drüben den Schwan am
Ufer?"
Roland stand schräg hinter ihr, deutete mit dem
Arm aufs andere Ufer, umarmte sie dabei nahezu.
Als Grit sich wegduckte, hielt er sie am Oberarm
fest, sah ihr in die Augen.
"Was passiert in den Büchern, die du liest?"
Er musterte sie mit lüsternem Blick.
Grit befreite sich aus seinem Griff, trat einen
Schritt zurück, zuckte mit den Achseln.
"Was halt so passiert in Romanen."
"Ich", sagte er, "lese die Bücher,
die es früher nur in Papier eingewickelt und heimlich gab. Du weißt schon.
Alleine. In der Bibliothek, dort, wo niemand außer mir ist."
Roland drängte sich an sie heran, sie fühlte
seinen Atem in ihrem Gesicht, wich zurück. Aber schon hatte er beide Hände
neben ihren Schultern an die Wand gestützt, drängte sich an sie, begann schwer
zu atmen, suchte ihre Lippen.
"Lass endlich wieder jemanden an dich heran!"
Susanne schon wieder.
"Hab doch mal Spaß!"
Susanne konnte einem
wirklich auf die Nerven gehen.
Roland schob seine Hand
auf ihre Brust und grinste.
"Besser als Bücher,
oder?"
Grit sah den von der Kugel
getroffenen Bären vor sich, der erstaunt auf die rote Wunde in seinem Pelz sah.
Einen Moment nur, dann stürzte er sich auf den Schützen. Ein letztes Aufbäumen,
mit aller Kraft, ehe er zusammenbräche.
Sie holte tief Luft, riss
ihre Arme nach vorne und warf sich gegen Roland. Er taumelte, sie trat mit den Füßen
nach ihm, schlug mit den Fäusten in sein Gesicht, biss ihm in die Hand.
Klack!
Roland lag rücklings auf
dem Boden, den Regenschirm wie eine nutzlose Waffe in der Hand. Sie knallte ihm
das Buch auf den Kopf.
"Lies mal was
Vernünftiges", sagte sie und ging zurück zur Bushaltestelle.
"Und?"
Susannes Stimme klang erwartungsvoll.
"War der Typ was?"
"Nein", sagte Grit, "er liest nur
Schrott."
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