Rushhour im Kaiserpalast

Warum die Reiseleitungen chinesischer Reisegruppen auf dem Münchner Marienplatz immer einen Schirm oder Fähnchen hochhalten, oder gar alle mit der gleichen Mütze herumlaufen, ist mir klar, seit ich auf dem Platz des himmlischen Friedens war, der eigentlich der Platz am Himmelsfriedenstor heißt.

Dort wimmelt es von chinesischen Touristen, es herrscht ein Gedränge wie auf dem Oktoberfest, es ist laut und Anweisungen dröhnen durch die Megafone der Reiseleiter. Dazwischen Sicherheitspersonal und Polizisten mit reglosen Minen, Kinder mit Eistüten und gelangweilten Gesichtern. Bei meinem heimlichen Wettbewerb um die originellste Einheitskleidung für Reisegruppen gewinnen junge Damen, die schwarze Kappen mit Mickey Mouse Ohren tragen. Allerdings nur knapp vor den jungen Männern in knallroten Jogginghosen, auf deren Po die Aufschrift „Happy Bear 2“ prangt.

Wer Frieden nicht mit Ruhe gleichsetzt, kann heute zufrieden sein, denn niemand wird niedergeschossen so, wie bei den Studentendemonstrationen im Jahr 1989. Damals waren über mehrere Monate hinweg täglich mehrere zehntausend Studenten auf dem Platz zusammengekommen, um ihren Forderungen nach dem Kampf gegen Korruption und Inflation, und für Meinungs- und Pressefreiheit sowie dem Recht, regierungsunabhängige Organisationen gründen zu dürfen, Nachdruck zu verleihen. Je länger die Proteste anhielten, umso mehr Personen schlossen sich auch aus anderen Bevölkerungsgruppen an, bis schließlich täglich um die hunderttausend Menschen auf dem Platz demonstrierten.

Ein Ärgernis für die Regierung, nicht nur wegen der Forderungen, sondern auch weil die Demonstranten den Empfang Gorbatschows blockierten. Konsequent erfolgte die Räumung des Platzes durch die Polizei am 3. und 4. Juni 1989. Sie forderte zahlreiche Verletzte und Tote, die genauen Zahlen der Toten schwanken zwischen zweihundert - nach offiziellen Regierungsangaben, und mehreren Tausend - nach Angaben von Amnesty International.

Heute eilen, geschützt von Regenschirmen, Kopfschirmen oder Käppchen, Chinesen in Feiertagslaune über den Platz. Nach der obligatorischen Taschenkontrolle, die von grimmigem Sicherheitspersonal durchgeführt wird, geht es in den Palast des Kaisers. Vorsorglich lernen wir „bu jau (ich will nichts kaufen)“ - denn um uns herum schwirren Händler, die alles Mögliche im Angebot haben.

Wenig erstaunlich ist da die Warnung der Reiseleiterin Lillian,  möglichst nicht verloren zu gehen. Zwar gebe es immer irgendwelche alten Leute, die einen, obwohl nur des Chinesischen mächtig, zur nächsten Polizeistation brächten, um wieder mit seiner Reisegruppe vereint zu werden, aber das werfe ein schlechtes Licht auf einen Reiseleiter.

Diese Rentner sähe man auch im öffentlichen Nahverkehr, wo sie Auskunft über Fahrzeiten geben, und einen von hinten anschieben, wenn schon mehr Menschen im Bus sind als eigentlich hineinpassen. Selbstverständlich bekämen sie ausreichend Rente, sie machten das nur, weil ihnen zuhause sonst langweilig sei. Ums Geld gehe es ihnen nicht, obwohl sie deutlich mehr Rente bekommen, wenn sie so eine Tätigkeit ausüben.

Interessant.

Der Palast hatte zu Lebzeiten des Kaisers nur ein Viertel seiner Größe, und noch immer ziert das Südtor ein Portrait Mao Zedongs. Dieses Tor auf der Nordseite des Tiananmen Platz, das früher immer geschlossen war, ist heutzutage weit geöffnet, um den Menschenmassen Einlass zu gewähren.

Stolpert man nicht über einen der vielen Touristen, dann vielleicht an den Türschwellen, denn diese sind gut zwanzig Zentimeter hoch. Die Schwellen schützen einerseits gegen böse Geister, andererseits zeigt deren Höhe aber auch den Status einer Familie: je höher, umso angesehener. Böse Geister kommen übrigens immer aus dem Norden, so wie früher die Mongolen.

Gebaut wurde der Palast in seiner ersten Form zwischen 1406 und 1420 unter Yong Le, dem dritten Ming Kaiser, ein Großprojekt, an dem eine Million Sklaven und hunderttausend Handwerker arbeiteten. Immerhin galt es 9.999,5 Räume zu gestalten. Diese seltsame Zahl rührt daher, dass nur der Himmel zehntausend Räume haben kann, und so mussten sich auch die Kaiser mit weniger zufrieden geben. In Wirklichkeit sind es sogar nur 8.886 Räume.

Der Palastkomplex besteht aus vier großen Haupthallen, sowie einer Vielzahl von Höfen und Nebenhallen, alle voneinander getrennt durch hohe Mauern. Umgeben ist das gesamte Palastgelände von einem 50 Meter breiten Wassergraben. Eine unüberwindliche Barriere für alle Feinde, die aus dem Norden kamen: sie konnten nämlich nicht schwimmen.

Trotz der bemerkenswerten Symmetrie, mit der die Höfe und Hallen angeordnet sind, was der inneren Harmonie dienen soll, und den kunstvollen Verzierungen, wirken die Gebäude trist und leblos. Kein Baum, keine Pflanze ziert die weitläufigen Höfe. Nur die gigantischen Wasserschalen, die als Löschwasserbehälter dienten und früher golden waren, lockern das Bild ein wenig auf. Ganzjährig waren sie voll Wasser, im Winter wurden sie beheizt, damit das Wasser nicht gefror. Angeblich sind die Alliierten daran schuld, dass diese Schalen heute weitgehend schwarz sind, hatten sie doch bei ihrem Einmarsch nichts Besseres zu tun, als das wertvolle Gold abzukratzen.

Obwohl in der Halle der höchsten Harmonie der golden lackierte Kaiserthron steht, lag das Machtzentrum später in der Halle der Geistespflege. Nachdem die Kaiserwitwe Cixi 1861 den Thron usurpiert hatte, fanden hier die Gespräche mit dem Kronrat statt. Das Kuriosum der zwei Thronsitze erklärt sich durch das niedrige Alter des damaligen Kaisers. Er repräsentierte zwar die kaiserliche Autorität, tatsächlich aber regierte seine Mutter. Sie saß auf einem zweiten Thron, der hinter einem gelben Vorhang versteckt war. Die Farbe des Kaisers ist gelb, einschließlich seiner Unterhose, und daher sind auch die Dächer des Palastes gelb. Kaiserliche Machtdemonstration, wo es nur ging.

Bei Hochzeiten dagegen trugen die Kaiser rote Kleidung. Rot ist die Farbe des Glücks. Sie wird auch heute noch bei traditionellen Hochzeiten getragen. Die lärmenden und fotografierenden Touristen hingegen tragen Jeans, Shorts und T-Shirts in allen möglichen Farben.

Den Glanz vergangener Zeiten kann man sich vorstellen, wenn man die Augen schließt und sich fest die Ohren zuhält, während man sich Bertoluccis Monumentalfilm Der letzte Kaiser vergegenwärtigt. Dann sind die Treppen mit wertvollen Teppichen belegt, und Eunuchen gleiten, in prachtvolle Gewänder gekleidet, lautlos durch die langen Gänge. Es riecht nach Tee, Räucherstäbchen und Litschis und in den schattigen Wandelgängen werden mit ernster Miene leise Gespräche geführt.

Der einzige Ort im Palast, an dem es Bäume gibt, ist der Garten des Kaisers. Betreten durften ihn ausschließlich die kaiserliche Familie und die Eunuchen, weil alle Kaiser in beständiger Angst vor Attentaten lebten.

Auch kein Spaß.

Getreu dem daoistischen Prinzip des Gartenbaus besteht der Garten des Kaisers aus den drei wesentlichen Elementen: Wasser, Berge und bizarr geformte Kalksteinfelsen. Diese stammen aus dem Tai Hu, dem zwar drittgrößten, aber nur durchschnittlich zwei Meter tiefen, See Chinas. Er liegt im Jiangtsekiang Delta bei Wuxi.

Zwischen diesen Gesteinsbrocken, die Miniaturberge und Grotten bilden, finden sich kleine Teiche, oft bewachsen mit Lotusblumen, die nicht nur wegen ihres hübschen Aussehens geschätzt werden. Ihre chinesische Bezeichnung ist lautgleich mit dem Wort für Liebe.

Im kaiserlichen Garten sorgen nicht nur Wasserbecken für Harmonie und Veranden für Schatten, auch der Boden ist so gestaltet, dass er den kaiserlichen Füßen Wohlbehagen verschaffte. Alle Wege sind mit kleinen runden Kieseln gepflastert, auf denen der Kaiser in Seidenschuhen mit dünnen Sohlen wandelte und damit gratis eine Fußmassage bekam. Unverzüglich ziehe ich meine Schuhe aus und gehe ein paar Schritte.

In der Tat, ein sehr angenehmes Gefühl an den Fußsohlen!

„Hier also“, überlege ich, „entspannte sich die kaiserliche Familie vom anstrengenden Regieren, trank Tee, pinselte Kalligraphien oder spielte Majong.“ Mein Blick fällt auf die tristen grauen Steine und die hohen Mauern. Für mich wäre hier trotzdem nicht der richtige Platz gewesen.

Neben der Entspannung, diente dieser Teil des Palastes auch dazu, Ehefrauen und Konkubinen für den Kaiser auszuwählen. Mit gesenktem Blick traten die Damen zu diesem Zwecke in den Hof und wurden von einem Balkon aus streng begutachtet. Kleine Füße, ein hübsches Gesicht und eine nette Figur waren die Auswahlkriterien. Ausgewählt wurden sie zwar von der Kaisermutter, aber vielleicht konnte der Kaiser zumindest den einen oder anderen Blick auf die Damen werfen, ehe diese ihre Wahl traf.

War die Frau einmal ausgewählt, durfte sie den Palast nur noch zu seltenen Gelegenheiten verlassen, im Prinzip war sie eine im Luxus gehaltene Gefangene. Im Palast vertrieb sie sich ihre Zeit mit Spielen, Malen und Tanzen - und natürlich damit, dem Kaiser im Bett zu Diensten zu sein.

Geburtenkontrolle ist in China nicht erst seit Einführung der Ein-Kind-Politik ein Thema, schon zu Lebzeiten der verschiedenen Kaiser wurde sie durchgeführt, wenn auch ein wenig anders als heutzutage.

Denn darüber, wer mit dem Kaiser schlief, wurde peinlich genau Buch geführt. Gegen Abend wurde dem Kaiser ein Tablett präsentiert, auf dem Holzbrettchen mit den Namen aller verfügbaren Frauen lagen. Hatte der Kaiser gewählt, musste die Frau sich baden und parfümieren und dann nackt auf einen Eunuchen warten. Dieser wickelte sie in ein Tuch und brachte sie in ein kaiserliches Schlafzimmer. In welches, wussten nur Kaiser und Eunuch - aus Angst vor Attentaten hatte der Kaiser eine Vielzahl von Schlafzimmern. Ob der Liebesakt vollzogen war, bemerkte der Eunuch, wenn der König hustete. Dann wurde die Konkubine in ihre Gemächer zurück gebracht.

Vermeldete eine Konkubine eine Schwangerschaft, wurde anhand der Aufzeichnungen nachgeprüft, ob das Kind tatsächlich vom Kaiser gezeugt worden sein konnte. Falls nein, waren ihre Tage gezählt. Wobei ich mich frage, wie das in einem Palast geschehen konnte, in dem nur der Kaiser zeugungsfähig war und den die Frauen nicht verlassen durften.

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